Zwischen CyberTED und virtueller Netznation.
Überlegungen zu den demokratischen Potenzialen des Internet
Anfang der 60er Jahre macht sich Edmund Berkeley Gedanken darüber,
wie die „Computer-Revolution" zur Verbesserung der Demokratie genutzt werden
kann. Er kommt auf die einfache Idee, am Telefon jedes Wählers ein
Gerät anzubringen, an dem die Nummer einer in der Zeitung veröffentlichten
Frage eingestellt wird, und bei dem dann mittels eines Schalters ausgewählt
werden kann, ob zu dieser Frage mit Ja, Nein, Enthaltung oder „es kommt
darauf an" abgestimmt wird. Diese Informationen werden elektronisch gesammelt,
und „am Morgen weiß der Abgeordnete, wie seine Wähler in der
Frage denken, über die er selber nachgedacht hat."
Aus heutiger Sicht klingen diese Idee, die wohl nie umgesetzt wurden,
naiv und antiquiert. Das hat etwas mit dem Dampflok-Charme eines mechanischen
Schalters zu tun, verglichen etwa mit Internetformularen, wie sie www.spiegel.de
für Meinungsumfragen verwendet. Es ist aber auch die autoritäre
Vorstellung von Politik, die das Beispiel so veraltet erscheinen lässt.
Politisch aktive BürgerInnen wollen heute mehr, als auf wohlüberlegte
Fragen aus Abgeordnetenbüros Ja oder Nein zu sagen.
Wie sieht es heute aus? Der Politikwissenschaftler Martin Hagen unterscheidet
(in den USA) drei Konzepte: den Wunsch nach mehr direkter Demokratie mit
Hilfe neuer Kommunikations-technologie (teledemocracy); den Ansatz, politische
Informationen leichter und direkter zugänglich und diskutierbar zu
machen (electronic democratization) sowie am radikalsten die Vorstellung,
den Nationalstaat durch virtuelle Zusammenhänge zu ersetzen (cyberdemocracy).
Praktische Relevanz haben davon bisher nur die ersten beiden Ansätze,
der dritte könnte wichtiger werden, wenn Globalisierung den Staat
eines Tages dazu zwingt, über eine Virtualisierung seiner politische
Form nachzudenken.
Direkte Tele-Demokratie
Auf den ersten Blick erscheint es reizvoll, das Internet für Meinungsbilder,
Wahlen und Ab-stimmungen zu nutzen. Während im „Bildschirmtext" Meinungsumfragen
noch explizit verboten waren, sind sie heute gang und gäbe. Genauso
unklar wie die Teilnehmendenstruktur ist allerdings auch die Aussagekraft
ihrer Ergebnisse. Diese sind alles andere als repräsentativ und hängen
stark von der jeweiligen Beteiligung ab.
Ernsthaftere Abstimmungen erfordern nicht nur einen erheblichen Aufwand
für politische Werbung – damit alle mitkriegen, dass abgestimmt werden
kann –, sondern vor allem aufwändige Sicherheitskonzepte. Ein aktuelles
Beispiel dafür sind die Wahlen an der Universität Osna-brück,
bei denen Stimmen erstmals nicht nur in der Wahlkabine oder per Briefwahl
abgegeben werden konnten, sondern auch im Netz – allerdings nur, wenn vorher
ein Kartenreader, eine Chipkarte und entsprechende Software ausgeliehen,
beantragt und installiert wurde. Dennoch gab es Datenschutz-Bedenken. Etwas
weniger hochgerüstet sieht es bei den Netz-Wahlen zum ICANN-Direktorium
aus, das die internationale Vergabe von Domains koordiniert. Hier erfolgt
die Anmeldung über die Seite www.icann.de, per Briefpost wird dann
ein PIN-Code zugeschickt.
Im Vergleich zu den politischen Fragen scheinen die technischen Schwierigkeiten
jedoch lösbar. Ist es überhaupt gewollt, per Netz abzustimmen?
Der Aufwand lohnt erst, wenn nicht alle paar Jahre gewählt wird, sondern
häufig Abstimmungen auf den ver-schiedenen politischen Ebenen stattfinden.
Prinzipiell sind diese per Internet einfacher, billiger und schneller durchzuführen.
Solange aber nicht 100% der Bevölkerung „drin" sind, droht eine Zweiklassendemokratie,
solange nicht auch reale Wahlkabinen aufgestellt werden. Damit verschwindet
jedoch die größten Vorteile elektronischer Abstimmungen.
Reden wir mal darüber
Eine breite Einführung digitaler Direktdemokratie hängt noch
von vielen technischen und politischen Unklarheiten ab. Anders sieht es
bei Elementen der electronic democratization aus. Hier hat sich zumindest
auf der informativen Seite in den letzten Jahren einiges getan. Nicht nur
Parteien, sondern auch viele staatliche Organe sind mit oft brauchbaren
Angeboten zu finden, so dass es heute kein Problem mehr ist, schnell mal
in ein Landtagsprotokoll zu schauen, einer Bundestagsdebatte zu folgen
oder ein Abgeordnetenbüro anzumailen. Deutlich ist allerdings das
derzeitige Ungleichgewicht zugunsten der Informationsangebote. Auf die
Möglichkeit zur Diskussion zwischen Staat und BürgerInnen wird
kaum Wert gelegt. Vereinzelte Online-Chats mit Prominenten in Wahlkämpfen
können dabei ebenso wenig der Weisheit letzter Schluss sein wie die
seltenen offenen Live-Diskussionen auf www.bundestag.de. Eine Verstetigung
und Fokussierung der politischen Bürgerbeteiligung im Netz steht noch
aus.
Wie Internet-Foren zur Demokratisierung beitragen können, hat
sehr schön der CDU-Skandal gezeigt – hier brodelte der virtuelle Stammtisch
im Forum von www.cdu.de. Aber auch hier stellt sich trotz einiger Hoffnungen
die Frage nach dem Niveau. Darüber hinaus werden gerade besonders
viel gefragte und damit interessante Netzforen durch die hohe Zahl an Beiträgen
sofort auch wieder unhandlich, und zersplittern entweder in Unterforen
oder verschwinden aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. So oder so wird die
Öffentlichkeit, die sich im Diskussions-forum Luft macht, vom Parlament
heute noch nicht zur Kenntnis genommen. Das kostet ja auch Zeit. Ein Dialog
findet nicht statt, der Link zwischen den politischen AkteurInnen und der
NetzbürgerIn fehlt.
Mehr Demokratie dank Internet?
Wer sich eine politische Meinung bilden will, hat es heute leichter als
noch vor einigen Jahren. Wer sich aktiv auf die Suche nach Informationen
macht, wird oft auch fündig. Wer in einer politischen Organisation
mit Menschen aus der ganzen Republik zusammenarbeitet, kann ebenfalls viele
Vorteile aus dem Netz ziehen. Mailinglisten und serviceorientierte Webseiten
stehen für diesen Weg. Was noch fehlt, ist die Schnittstelle zwischen
„großer" Politik und dem Netz, abseits der reinen Information. Hier
bietet das Internet durchaus Chancen, ein neues und wichtiges Medium politischen
Handelns zu werden.
Das passiert jedoch nicht von alleine. Die Nutzung des Netzes innerhalb
politischer Organisationen bietet so viele Vorteile, dass sie fast von
selbst anfängt. Für politische Information ist offensichtlich
die Nachfrage da, auf die reagiert wird. Wenn sich aber im Bereich der
tatsächlichen, teilhabenden Kommunikation etwas tun soll, dann ist
dafür der aktive politische Wille des Staates notwendig. Und der scheint
noch in den Kinderschuhen zu stecken. Zugleich bietet sich damit aber auch
ein Handlungsfeld, auf dem die Grüne Jugend politisch innovativ werden
könnte.
(c) Till Westermayer,
Juni 2000. Veröffentlicht in: SPUNK (Zeitschrift der Grünen
Jugend) #23, Juni 2000, S. 6/7.