Nahostkonflikt und linker Nationalismus

Nicht nur auf Mailinglisten des u-asta tobte in den letzten Tagen eine heftige Diskussion darüber, was die richtige Position zum Nahostkonflikt ist. Auch in vielen anderen linken oder sonst wie weltoffenen Zirkeln tauchten urplötzlich sehr tiefgehende Gräben auf. Ist es okay, das Vorgehen der israelischen Armee gegen die palästinensischen Autonomiegebiete zu kritisieren? Oder ist es nicht Zeichen eines (un)heimlichen Antisemitismus, jetzt - ausgerechnet aus Deutschland heraus - ausgerechnet Israel zu problematisieren?

Für die erste Position spricht, dass die Lage in den von Israel wieder besetzten palästinensischen Autonomiegebieten unerträglich ist, dass weder unabhängige BeobachterInnen noch medizinisches Personal dort hineingelassen wurden, dass immer wieder Gerüchte auftauchen, dass JournalistInnen nur berichten dürften, wenn sie sich an Zensurvorgaben der Militärbehörden halten, dass die wenigen per Mobiltelefon oder eMail nach außen dringenden Augenzeugenberichte eine katastrophale Lage schildern.

Dagegen steht die Tatsache, dass antisemitische Übergriffe auch in Europa, und gerade auch in Deutschland zugenommen haben, dass bei pro-palästinensischen Demonstrationen kaum die Menschenrechte und das zukünftig notwendige gemeinsame Zusammenleben zweier Staaten hochgehoben werden, sondern auch hier Gewalt, Terror und Vorurteile in der Luft liegen. Dagegen spricht auch die Tatsache, dass der Alltag in Israel durch palästinensische SelbstmordattentäterInnen zu einer täglichen Bedrohung geworden ist.

Das alles macht Debatten über den Nahost-Konflikt nicht einfacher. Trotzdem halte ich es für falsch, eine der beiden skizzierten Positionen einzunehmen, wie dies mit zunehmender Härte und zunehmender Ausschließlichkeit neuerdings in Mode kommt. Wer für Israel ist, ist gegen Palästina, wer für Palästina ist, ist antisemitisch. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Diese zweiwertige Logik versagt in diesem "Krieg gegen den Terror" genauso wie bei Bush.

Eine Lösung des Nahost-Konflikts - der ja letztlich eine Geschichte hat, die weit vor die Errichtung des Staates Israel im damaligen britischen Kolonialgebiet zurückreicht - scheint mir von zwei Punkten abzuhängen. Mittelfristig halte ich es für notwendig, einen tatsächlich existierenden, also politisch anerkannten palästinensischen Staat zu schaffen. Um einen solchen Staat zu schaffen, sind in der derzeitigen eskalierten Lage wohl tatsächlich Eingriffe von außen notwendig, d.h. von Maßnahmen auf der Ebene der Vereinten Nationen, um die kämpfenden Parteien zu trennen. Das Projekt eines gemeinsamen arabisch-jüdischen Staates ist vorerst gescheitert. Dennoch ergeben sich Probleme daraus, dass Israel und Palästina wirtschaftlich eng verflochten sind, aber insbesondere auch daraus dass der Versuch, ethnisch "reine" Staaten zu schaffen, schon immer zugleich eine Geschichte der Rachewünsche, der Unterdrückung von Minderheiten, der Massaker und Gewalttaten war - Stichwort Balkan.

Langfristig - das ist der zweite Punkt - halte ich es für unabdingbar, für eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung zu kämpfen. Diese Fortsetzung sehe ich in einer viel weitergehenden Trennung von Staatlichkeit und Staatsbürgerschaft auf der einen Seite und ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Positionierungen auf der anderen Seite als es heute der Fall ist. Die BürgerInnen eines Staates kollektiv an eine bestimmte Ethnie zu koppeln, von der Fiktion einer kollektiven religiösen Identität, einer kollektiven und kollektiv zu tragenden Geschichte und Tradition auszugehen, birgt immer noch und immer wieder die Gefahr in sich, verborgene Sprengsätze ins Tageslicht zu zerren und sie zu entzünden. So historisch wichtig die Gründung eines dezidiert jüdischen Staates war, so unveränderlich heute das "islamisch" in den Staatsnamen der meisten Staaten im Nahen Osten ist - eine langfristige Friedensperspektive sehe ich nur in einem auf jeden einzelnen Menschen bezogenen gegenseitigen Respekt, in der Ablehnung jeder Form von Apartheid und BürgerInnen zweiter Klasse: Eben in der Entkopplung der staatlich-politischen und der kulturell-weltanschaulichen Sphäre.

Dieses langfristige Projekt führt in der weiteren Konsequenz dazu, jegliche Form von Identitätspolitik kritisch zu betrachten. Politische Einheitlichkeit nicht auf einheitliche politische Überzeugungen zu stellen, sondern sie auf die gleiche Ethnie, auf die gleiche Religion, auf die gleiche imaginäre Gemeinschaft zu begründen, entkoppelt Politik und Rationalität und spaltet ohne Grund Menschen in Feind und Freund. Dies gilt für alle nationalistischen Bestrebungen, also auch für die palästinensische Befreiungsbewegung. Aus der Kritik an Identitätspolitik heraus erscheint es mir aber ebenfalls notwendig, all jene zu kritisieren, die die spezifisch deutsche Geschichte zum Mittelpunkt ihrer Ideologie machen. Es kann auch eine Form von Nationalismus sein, die Aufarbeitung des Holocausts nicht konstruktiv dazu zu nutzen, dessen Wiederholung zu verhindern, sondern dazu, heute ausgehend von kollektiven Identitätsmerkmalen Menschen in gut und böse zu teilen, in solche, die nicht und nie kritisiert werden dürfen, und solche, die per se in der Kritik stehen. Wer dies tut, hat meiner Meinung nach die falschen Schlüsse aus der deutschen Geschichte gezogen. Und leider geschieht dies auch in der linken Debatte um den Nahost-Konflikt.


 
(c) Till Westermayer, April 2002. Veröffentlicht in: u-asta-info 683, 25.04.02, S. 3.