Ein Geek bei der Graswurzelarbeit

Als Freiwilliger ins ländliche Kenia - ungewöhnlich für die Open-Source-Community. Sudhakar "Thaths" Chandrasekharan hat ein Jahr lang geholfen, das ländliche Kenia ins Informationszeitalter zu bringen. Till Westermayer sprach mit ihm über seine Motive und darüber, was Open-Source-Software dem Süden bringen kann.

In die USA ...

"Computer-Inder" - der Begriff muss irgendwann in den Debatten um die Einführung einer Green-Card für den IT-Bereich in Deutschland entstanden sein. Verbunden damit ist das Bild eines "Brain Drains": Fachkräfte aus Südasien retten die IT-Industrie in Europa und den USA. Auch Sudhakar "Thaths" Chandrasekharan passt auf den ersten Blick in dieses Bild. Der 32-jährige Inder wuchs in Südindien in einer Mittelklassefamilie auf und machte seine ersten Computererfahrungen in der High School - allerdings größtenteils mit Tafel und Kreide.

Spätestens als ein Freund aus den USA ihm einen Ausdruck des "Jargon Files" per Post zuschickte, wusste er, dass die Computerkultur seine Kultur war. Nach dem BA-Abschluss in Indien ging Chandrasekharan zum Studieren in die USA und machte dort - finanziell unterstützt von seiner Familie und durch Bankkredite - seinen Informatikabschluss. Um diese zurückzahlen zu können, entschloss er sich, ein Angebot von Netscape anzunehmen und in den USA zu bleiben. Mit dem Aufkauf von Netscape durch AOL wurde aus dem kalifornischen Traumjob Frustration. Aber ohne weitere Arbeit bei Netscape keine Green-Card für die USA - also blieb Chandrasekharan.

"Mein Traum vom Internet war der eines großen Gleichmachers, der die Leute zusammenbringt. Ich hielt es für das beste Medium für Kommunikation und Bildung. Doch ich konnte dabei zuschauen, wie es mehr und mehr zu bloß einem weiteren Unterhaltungsmedium wurde."

Diese Vision speiste sich aus seinen eigenen Erfahrungen: das große Hilfsmittel, um die schwierige Anpassung an die US-Kultur in seinem ersten Jahr dort zu überstehen, und nicht in Depressionen zu geraten, war für Chandrasekharan das internetbasierte Netzwerk der indischen Diaspora-Community. Er erinnert sich daran, wie ihn dies dazu brachte, sich der dem Internet zukommende Macht bewusst zu werden, Menschen zusammenzubringen, die sich nie zuvor getroffen haben oder treffen werden, um sich gegenseitig zu helfen und sich zu unterstützen. Neben dem Internet lernte Chandrasekharan in dieser Zeit noch etwas anderes schätzen: Open-Source-Software und Linux - ideal für das schmale Budget eines Studenten, und ideal, um selbst im Internet aktiv zu werden. Unter dem Namen "Thaths" ist er seither aktiv daran beteiligt, Open-Source-Software und Linux in Indien populär zu machen - und sie weiterzuentwickeln.

Die Arbeit bei Netscape endete für Chandrasekharan, kurz nachdem er seine Green-Card bekommen hatte: er war eines der vielen Opfer des Stellenabbaus nach dem Ende des Dot-Com-Booms geworden. Mit dem bei Netscape verdienten Geld reiste Chandrasekharan erst einmal durch Südostasien - nicht zuletzt, um sich über seine Zukunftspläne klar zu werden.

... nach Kenia ...

Ab hier unterscheidet sich Chandrasekharans Geschichte vom üblichen Bild der IT-Szene und der Geeks und Nerds. Ihm kam eine Idee, wie er sein Computerwissen und sein neu entdecktes Interesse am Kennenlernen neuer Plätze und neuer Menschen miteinander verbinden konnte - und außerdem endlich das Gefühl haben konnte, mit seiner Arbeit wirklich etwas zu verändern. Er bewarb sich bei der britischen Organisation VSO als Freiwilliger. VSO organisiert seit 1958 halb- bis zweijährige Arbeitseinsätze von erfahrenen und gut ausgebildeten SpezialistInnen in Entwicklungsländern.

"VSO engagiert IT-Fachkräfte, WissenschaftlerInnen, Englisch-LehrerInnen, KünstlerInnen, Geschäftsleute, JournalistInnen, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen sowie IngenieurInnen. Es gab sogar ein paar Cricket-TrainerInnen und Hotel-Manager."

Die über VSO vermittelten SpezialistInnen haben die Möglichkeit, sich in die jeweilige lokale Gemeinschaft einzuleben, ihr Wissen weiterzugeben, Ideen auszutauschen und neue Erfahrungen zu machen. Dafür werden ihre Grundbedürfnisse von VSO finanziert.

Für Chandrasekharan führte der Weg über VSO nach Kenia. Der Job-Beschreibung nach sollte er dort an dem kleinen ländlichen Holy-Rosary-College für Mädchen Grundlagen der Computernutzung vermitteln. Tatsächlich stellte er bald fest, dass es fast noch wichtiger sein würde, auch den LehrerInnen etwas über Computer beizubringen. Viele von ihnen hatten bisher selbst kaum praktische Erfahrungen mit dem Computer gemacht. So unterrichtete er schließlich unter der Woche die Schülerinnen und am Wochenende die Lehrkräfte. Nach monatelangen Bemühungen konnte er - darin sieht er einen seiner wichtigsten Erfolge - erreichen, dass das Holy-Rosary-College einen Feldweg zum Internet bekam: dank einer Vielzahl an Spendern und Sponsoren ist es jetzt möglich, den Computer als Tor zur Welt kennenzulernen.

Bisher verfügen nur die reicheren Schulen in Kenia überhaupt über Computer; in den meisten Schulen gibt es keine. Dieses Bild ändert sich erst langsam; in der Oberstufe gehören seit kurzem Büroanwendungen und manchmal auch einige wenige theoretische Grundlagen des Programmierens zum Lehrplan. Kirchengemeinden und kleine Computerzentren, die Dienstleistungen wie das Ausdrucken von Briefen anbieten, beginnen gerade damit, auch Älteren die Grundlagen der Computernutzung zu vermitteln. Trotzdem sind gerade in den ländlichen Gebieten Kenias bisher kaum Computer zu finden. Für die durchschnittliche kenianische Familie ist ein eigener Computer finanziell undenkbar - einen Computer anderswo, etwa in einem der neu entstehenden Internetcafes stundenweise zu mieten, ist aber möglich. Hierin sieht Chandrasekharan eine der wichtigsten Chancen für die IT-Technologie in Kenia.

Während seines einjährigen Aufenthalts lernte Chandrasekharan die ganze Spannweite des Lebens in Kenia jenseits der touristischen Highlights kennen: Er lebte und arbeitete zusammen mit Menschen, die weniger als einen Dollar am Tag verdienen, und die sich noch nicht einmal ein Bus-Ticket für wenige Cent leisten konnten. Gleichzeitig lernte er auch das andere Extrem kennen: superreiche Kenianer, die auf großen Tee-Plantagen und Farmen einen Lebensstil pflegen, der weit über den westlichen Durchschnitt hinausgeht.

"Ich erkannte, dass die übliche Wahrnehmung, dass Afrika ein armer Kontinent ist, nur teilweise stimmt. Es gibt viele, viele reiche Afrikaner, die weitaus reicher sind als die meisten Menschen in der entwickelten Welt."

Während seines Aufenthalts kam es zum friedlichen Machtwechsel zur Opposition in Kenia. Chandrasekharan beschreibt die Atmosphäre dieses Machtwechsels als unglaublich eindrucksvoll und sieht darin ein als glänzendes Beispiel für ganz Afrika. Zum ersten Mal sei vielen Menschen in Kenia bewusst geworden, dass sie tatsächlich etwas bewirken können. Eine große Chance für eine eigenständige Entwicklung Kenias und der Entwicklungsländer insgesamt sieht Chandrasekharan in Open-Source-Software. Kleine und mittlere Firmen sparen Lizenzkosten, wenn sie Open-Source-Software einsetzen. Dieses Geld fließt nicht in die Taschen multinationaler Konzerne, sondern bleibt im Land - und kann zum Teil dafür eingesetzt werden, qualifizierte Arbeitsplätze zu schaffen.

In der nahen Zukunft könne dann auch Kenia vom Open-Source-Konsumenten zu einer aktiven Kraft in der Open-Source-Entwicklung werden. Chandrasekharan sieht hier Parallelen zu Indien. Als er dort vor fünf Jahren Linux India mitbegründet hat, konnte Indien auf Open-Source-Software aus dem Westen zurückgreifen und diese nutzen. Heute sind ProgrammierInnen aus Indien aktiv an der Weiterentwicklung von Open-Source-Software beteiligt und es gibt inzwischen eine ganze Reihe an indischen Open-Source-Projekten in der Sourceforge-Datenbank.

... und zurück nach Indien

Nach seiner Rückkehr aus Kenia heißt Chandrasekharans nächstes Ziel Bangalore:

"Immer wieder wird mir erzählt, dass Bangalore das nächste Silicon Valley werden wird. Ich möchte sehen, was der IT-Auftrieb mit Indien und den InderInnen macht - im positiven wie im negativen. Die Beschäftigungszunahme ist sicher gut. Aber gleichzeitig höre ich von Menschen mit universitären Abschlüssen in Literatur oder in Naturwissenschaft, die in Call Centern enden."

Chandrasekharan plant, für ein Jahr in Bangalore zu arbeiten und auf einer lokalen Ebene zu versuchen, die Entwicklung zu beeinflussen. Er selbst hat erfahren, was Informationstechnologie in einer zunehmend globalisierten Welt bewirken kann. Seine Befürchtung wäre eine Welt, in der Informationstechnologie den Süden erreicht - aber nur in Form ihrer schlimmsten und kommerziellsten Aspekte: als Unterhaltungsmedium und zum Einkaufen. Statt dort neue Freunde zu finden, wäre das Internet nur das Medium für die letzte Reality-Show und das Handy nur ein Mittel, um Cola zu bestellen. Mit Hilfe von IT würde die Welt zu einem langweiligeren Ort: alle ziehen das selbe an, kaufen und konsumieren das selbe, schauen die gleichen Programme an und denken das gleiche.

In Chandrasekharans Augen könnte IT aber auch dazu beitragen, die momentan ungerechten Verhältnisse zwischen "erster" und "dritter" Welt zu verändern. Den Befürchtungen stellt er eine positive Vision gegenüber. Informationstechnologie könnte helfen, die Welt gerechter zu machen und die Mauern zwischen Nord und Süd einzureißen. Der gleiche Zugriff auf Wissen und Information würde den weltweiten Wettbewerb zwischen WissensarbeiterInnen auf fairere Beine stellen. Die Bedeutung der Geographie würde abnehmen, die der direkten Kontakte zunehmen. Äthiopische Kaffeefarmer könnten - zu fairen Preisen - ihren Kaffee direkt an deutsche EndverbraucherInnen verkaufen, ein Masai könnte sich mit einem Landwirt in Mexiko über Tierhaltung austauschen und eine Künstlerin aus Mali ihre Werke online für ein globales Publikum ausstellen.

Wir dürfen gespannt sein auf Chandrasekharans Beitrag dazu, diese Vision in politischer Arbeit vor Ort und im Engagement in der Open-Source-Community Wirklichkeit werden zu lassen. Und darauf, ob andere es ihm gleich tun werden.


 
(c) Till Westermayer, November 2003.
Veröffentlicht in: u-asta-info 706, 13.11.03, S. 6/7.