Rede: Chancen und Risiken elektronischer Demokratie in Deutschland


Die Rede wurde am 4.11.99 im Roten Rathaus Berlin als 1. Preisträger beim Studentenwettbewerb 'Deutsche Staatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung' des Bundesinnenministeriums gehalten. (Den Preis für eine überarbeite Fassung der Hausarbeit Politik im Internet). Es gilt das gesprochene Wort.

 Anrede,

Natürlich steht an erster Stelle in der Rede der Dank der Preisträger: der Dank an das Ministerium und an den Minister, aber auch an die Jury und nicht zuletzt an das für die Organisation des Wettbewerbs zuständige Team. Dankeschön!

Besonders freut es mich, dass das Bundesinnenministerium mit eigenen Mitteln versucht, Anreize und Ansporn für Studierende zu schaffen, sich mit den drängenden Zeitproblemen auseinanderzusetzen. Die Überlegung mag übertrieben anmuten: Aber vielleicht tragen Wettbewerbe wie dieser mehr zur Förderung der bundesdeutschen Universitätslandschaft bei als sämtliche Debatten über Studiengebühren. Auch deswegen also mein Dank.

Es möge mir verziehen werden, dem Dank und der Freude eine kritische Anmerkung hinzuzufügen: In der ersten Ausschreibung des Wettbewerbs war ein „Verfassungskongress der Jugend“ angekündigt, der – vor allem wohl aus finanziellen Gründen – als solcher nicht stattfand. Stattdessen waren wir eingeladen, am „großen“ Verfassungskongress im Mai teilzunehmen, eine sicherlich ehrwürdige und feierliche Veranstaltung, die aber doch eine etwas andere Zielsetzung hatte. Ich sehe durchaus ein, dass es unter den derzeitigen finanziellen Rahmen-bedingungen kaum möglich ist, all das durchzuführen, was wünschenswert wäre. Das heisst aber eben auch, dass Politik gerade in Zeiten knapper Kassen eine Frage der Prioritätensetzung ist – und über die lässt sich bekanntlich trefflich streiten. Ohne hier eine grosse Debatte zu eröffnen: Ich persönlich hätte es einfach schön gefunden, wenn es mit einem jungen, studentischen Kongress einen Rahmen dafür gegeben hätte, den vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Wettbewerb die Möglichkeit zu geben, sich (über Disziplinen und Meinungen und lokale Besonderheiten hinweg) untereinander auszutauschen – und insbesondere den Austausch mit „der Politik“ nicht nur zu suchen, sondern auch zu finden. Ein solcher Kongress hätte einen gewissen Symbolcharakter gehabt: Miteinander reden statt Reden halten. Und das ist etwas, was einer Demokratie eigentlich immer gewünscht werden kann, oder?
So jedoch bleibt es größtenteils bei den eingereichten Arbeiten und der Hoffnung, dass die eine oder andere Idee aus den Wettbewerbsbeiträgen auch so ihren Weg durch die Institutionen und vielleicht in die Öffentlichkeit findet.

Aber wie gesagt – das nur als kleine kritische Anmerkungen am Rande, und nichtsdestrotrotz: Herzlichen Dank noch einmal im Namen aller TeilnehmerInnen!

 Mit Dank alleine ist es nicht getan. Ich wurde gebeten, hier die wichtigsten Thesen meiner Arbeit vorzutragen. Dieser Bitte möchte ich gerne nachkommen:

In der für den Wettbewerb eingereichten Hausarbeit hatte ich mich der Frage gewidmet, einmal auszuloten, wie es denn um die Chancen und Risiken elektronischer Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland steht. Wer sich unter dem Schlagwort der „elektronischen Demokratisierung“ nichts vorstellen kann: ganz vereinfacht können alle Ansätze darunter gepackt werden, die versuchen, mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologie eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Politik zu erreichen. Das Ausloten der Chancen und Risiken dieses Ideenfeldes geschah in drei Schritten: Ich habe mich ein wenig mit der Geschichte dieser Idee der elektronischen Demokratisierung befasst, habe einige aktuelle Implementierungen von Politik im Internet als Fallbeispiele herangezogen und habe schließlich einige Überlegungen dazu angestellt, wie die Zukunftsaussichten einer elektronischen Demokratisierung hierzulande einzuschätzen sind.
Insgesamt bin ich dabei zu fünf Thesen gekommen, in denen sich die meiner Meinung nach wichtigsten Erkenntnisse meiner Arbeit zusammenfassen lassen:

(1) Nicht erst seit dem Internet-Boom gibt es die Idee, elektronische bzw. tele-kommunikative Hilfsmittel zur Demokratisierung zu nutzen. Diese eigene Geschichte der elektronischen Demokratisierung ist allerdings größtenteils verschüttet und muss erst ausgegraben werden. Ein Beispiel dafür sind Überlegungen im Zusammenhang mit der Einführung des Kabelfernsehens, dieses damals neue Medium auch für bürgerschaftliche Beteiligung zu nutzen. Wichtig ist es hier, genau nachzuschauen, warum derartige frühere Ansätze nicht erfolgreich waren.

(2) Elektronische Demokratisierung ist mehr als nur eine Idee. Auch heute schon werden das Internet und computervermittelte Kommunikation ganz faktisch von verschiedensten Organisationen als Mittel zum Zweck politischen Handelns eingesetzt. In den seltensten Fällen geht es dabei allerdings um das klassische politische Betätigungsfeld der Wahlen und Abstimmungen: im Vordergrund stehen deliberative Instrumente (z.B. Diskussionsforen zu politischen Themen, der Chat von PolitikerInnen mit BürgerInnen) und demonstrative Instrumente (dazu gibt es am Beispiel des letzten Studierendenstreiks einen sehr schönen Artikel von Christoph Bieber und Eike Hebecker), – sowie Rationalisierungsanwendungen im Bereich der organisationsinternen Kommunikation.

(3) Das soziotechnische System „elektronisches Netz“ muss eingebettet in spezifische Gesellschaften betrachtet werden, für die es je nach Nutzung auch Folgen mit sich bringt. Bestimmte Debatten über bestimmte Nutzungsformen finden nur in bestimmten kulturellen Kontexten statt: Der rheinische Kapitalismus stellt eine andere Umgebung für bestimmte soziotechnische Diskurse dar als die kalifornische Risikoküste.
Technik alleine determiniert also nicht das Handeln. Dennoch gibt es auch unabhängig des gerade ins Spiel gebrachten kulturellen Kontextes Aktionsformen, die durch elektronische Netzwerke erleichtert werden (z.B. die sehr schnelle Kommunikation über weite Entfernungen unter vielen Beteiligten) und Aktionsformen, die durch diese Technik erschwert werden (z.B. die Einschätzung anhand von Gesten). Diese Spezifika elektronischer Netze werden auch bei der politischen Nutzung sichtbar.

(4) In der Debatte um elektronische Demokratisierung gibt es einige sehr weitgehende Ansätze, die häufig unter dem Schlagwort Cyberdemocracy zusammengefasst werden. Diese Ansätze einer Cyber-Demokratie im Sinne einer Auflösung des Nationalstaats als politischem Handlungsraum zugunsten eigenständiger vernetzter virtueller politischer Aktionseinheiten erscheint – inbesondere auch unter der Betrachtung der spezifischen politischen Form der Bundesrepublik Deutschland – jedoch sowohl als sehr unwahrscheinlich als auch bei näherer Betrachtung als nicht wünschenswert.

(5) Die heute zu hörende Forderung nach elektronischer Demokratisierung muss schließlich als ein Phänomen begriffen werden, das sich per se erst einmal mit der Oberfläche des Politischen auseinandersetzt. Dahinter steckt jedoch der tiefergehende Wunsch nach politischen Veränderungen angesichts veränderter globaler Rahmenbedingungen, wie sie in der Begrifflichkeit der  „postnationalen Konstellation“ bei Jürgen Habermas oder in der Forderung Ulrich Becks nach der Weltbürgergesellschaft sichtbar werden. Eine weitgehende Um-setzung elektronischer Demokratisierung erscheint demnach nur im Zusammenhang mit den Debatten über größeren Veränderungen in der Organisationsform des globalen politischen Systems denkbar.

Als Fazit dieser fünf Thesen komme ich zu der Schlussfolgerung, dass der große Wurf einer umfassenden und ausschließlichen Übertragung demokratischer Entscheidungsprozesse auf elektronische Netze nicht zu erwarten ist.
Es gibt aber viele kleinere Ansätze zur Nutzung elektronischer Netze: vor allem im Sinne einer deliberativen Verankerung des Politischen in der Diskussion, aber auch mit Blick auf Verbesserung der Möglichkeiten zur bürgerschaftlichen Partizipation. Ich meine, dass es dem Staat angesichts des Trends zur Entstaatlichung im Namen der Globalisierung ein Anliegen sein müsste, insbesondere diesen begrenzten Projekten mit Pilotcharakter gegenüber Unterstützungswille und Reformbereitschaft zu zeigen. So könnten erste Erfahrungen mit der elektronischen Demokratisierung gesammelt werden.

Wichtig ist mir, dass der fortlaufende Einstieg in die globale Informationsgesellschaft nicht nur wirtschaftlich und ordnungsrechtlich begleitet wird. Als Teil des Problems der globalen Informationsgesellschaft stellt sich die Frage, wie eine demokratische Verankerung politischen Handelns in Zukunft –  insbesondere im Rahmen der deutschen Staatlichkeit – möglich bleiben soll. Und im Problem angelegt scheint schon die Lösung einer Modernisierung der Staatlichkeit.

Wie könnte eine solche Modernisierung der deutschen Staatlichkeit mittels Internet konkret aussehen?
Zuerst einmal deutet diese Frage auf den spezifischen kulturellen Kontext deutscher Staatlichkeit. Der Politikwissenschaftler Martin Hagen hat in einem Vergleich mit der amerikanischen Debatte um elektronische Demokratisierung für Deutschland folgende Stichwörter genannt: eine deutsche politische Kultur, die auf Beharren, Reformunwille und Gehorsam aufbaut. Der Hang zum Idealismus. Das generell negative Image der politischen Sphäre im Vergleich zu Freizeit oder Wirtschaft.
Im Blick auf diese Schlagwörter lässt sich gut begründen, warum Versuche scheitern müssen, für eine  Modernisierung der deutschen Staatlichkeit eine weitgehende digitalisierte direkte Demokratie oder die schon erwähnte virtuell-autonome Cyberdemokratie vorzuschlagen. Also: Elektronische Demokratisierung, aber maßvoll, niemanden überfordernd, überrollend.
Zu bedenken sind allerdings auch die weltweiten Entwicklungen. Sollte es – wie von Ulrich Beck gefordert – zu einer Ergänzung der globalen Akteure um bürgergesellschaftliche Mitwirkungsmöglichkeiten kommen, werden sich dafür die elektronischen Netze anbieten; ungeachtet ihrer nationalstaatlichen Einbettung – gerade wegen des ihnen inhärenten Potenzials globaler Kommunikation. Starke elektronische Demokratieformen könnten im Blick auf weltbürger-gesellschaftliche Verfahrensformen so zu einer Ergänzung der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik führen.

Weitaus wahrscheinlicher als die politische Info-Revolution sind aber Entwicklungen im Bereich der eigentlichen elektronischen Demokratisierung. Die dem Internet zugehörigen Interaktionsmöglichkeiten werden auch genutzt – so gut wie alle politischen Akteure haben inzwischen erkannt, dass das Netz sowohl für ihre interne Kommunikation als auch für das Zusammentreffen mit der Öffentlichkeit verbesserte Möglichkeiten im Vergleich zu den Vorgängermedien bereithält.
Abzuwarten bleibt, wieweit hier der Trend zur massenmedialen Eventvermarktung einen Strich durch die Rechnung zieht. Die großen politischen Akteure wie Parteien, Regierungen, Verbände balancieren dabei zwischen der Werbe- und Medienindustrie, die Politik vor allem als Event sieht (z.B. www.spiegel.de) und dem Raum spezifisch politischer Angeboten, heute vor allem aus der Alternativszene. Abzusehen ist dabei, dass der Kampf um Aufmerksamkeit für die Seite der „Werbung“ zu Buche schlägt. Die Hoffnung politischer Kampagnen, im Netz Aufmerksamkeit zu finden, ist keinesfalls per se gewährleistet. Viele wichtigen Informationen fallen nur in den Aufmerksamkeits-fokus kleiner Teilöffentlichkeiten. Wer kriegt schon mit, was Echelon und Enfopol bedeutet?

Umso wichtiger erscheint es mir deswegen, dort Aufmerksamkeit abzuschöpfen, wo sie eh hingerichtet wird, und diese dann im Sinne weitgehender politischer Angebote in sinnvolle Bahnen zu lenken. Die Webpage der Bundesregierung sollte also nicht nur Werbung für verabschiedete Gesetze machen (so sinnvoll das auch in einer Mediengesellschaft erscheint), sondern wichtiger noch Gesetzentwürfe im Netz bereitstellen, und eine Diskussion über diese – teilweise heute schon zu findenden Entwürfe und Thematiken – aktiv fördern. Damit derartige Angebote glaubwürdig werden, müssen allerdings die von User-Seite vorgebrachten Einwände und Änderungsvorschläge auch ernsthaft in den politischen Entscheidungsprozess miteinbezogen werden. Reine Akzeptanzförderung ist keine elektronische Demokratisierung.

Vor allem im kommunalen Bereich kann ich mir gut vorstellen, dass es dort nicht nur darum geht, die Diskussion zuzulassen, sondern dass hier auch die Mitentscheidung per Mausclick möglich sein kann. Insbesondere bei „brennenden“ Themen vor Ort bietet sich das Netz als sinnvoll nutzbares Medium an. Es gilt allerdings auch hier, dass niemand allein der politischen Beteiligungsmöglichkeit wegen die Webseite seiner Kommune aufsuchen wird. Darüber darf gejammert werden – nur hilft das nichts. Deswegen sollten auch kommunale Webseiten mit attraktiven Angeboten locken. Hier bietet sich besonders der Bereich der bürger-nahen Verwaltung an. Wenn sich dann die elektronische Steuererklärung eines Tages etabliert hat, mag auch die elektronische Wahl und Volksabstimmung – zumindest als paralleles Angebot zum Gang zur Wahlkabine – nicht mehr allzu utopisch erscheinen. Nur um es noch einmal deutlich zu machen: die Ideen der kalifornischen Cyberdemokraten, die ich momentan für völlig unrealistisch halte, gehen noch sehr viel weiter.

Um zum Schluss zu kommen: Das Internet verändert als Teil der Informationstechnologie eingespielte Handlungsabläufe gravierend. Rationalisierung durch Computereinsatz funktioniert nicht nur des Computers wegen, sondern vor allem aufgrund der sich mit neuen technischen Systemen verändernden Organisationsformen. Wo sinkende Transaktionskosten offensichtlich sind, etwa beim Intranet innerhalb von Parteien, setzt sich Technik fast von alleine durch und reformiert dann ebenso fast von alleine Organisationsstrukturen. Wo sinkende Transaktionskosten erst mit größeren organisatorischen Reformen etwa im formalen Ablauf der Gesetzgebung deutlich werden, setzt sich Technik nicht von alleine durch. Wer das hier heute meist brach liegende Potenzial der Netzkommunikation für politische Handlungen auch nutzen möchte, darf nicht davor zurückschrecken, dort „vorauseilend“ die formalen Mittel dafür zu schaffen. Erst dann werden viele Potenziale des Internets im Bereich bürgerschaftlichen Engagements deutlich.

Um zum Thema des Wettbewerbs zurückzukehren: Letztlich könnte das Netz als Ergänzung klassischer Formen politischen Handelns dazu beitragen, die nationalstaatliche Identität der Bundesrepublik Deutschlands in einer sich verändernden Welt zu erhalten. Es kann nicht darum gehen, die deutsche Staatlichkeit um alles in der Welt vor „Globalisierung“ schützen zu wollen. Auch hier gilt: Nur was sich verändert, bleibt sich treu. – Elektronische Medien können ihren Beitrag zu dieser Veränderung leisten. Und genau deswegen sollte es auch im Interesse der Bundesregierung liegen, ein positives Klima nicht nur für e-Commerce, sondern eben gerade auch für e-Democracy zu schaffen – und dabei nicht zu vergessen, dass dann aber auch kein Weg daran vorbeiführt, mehr Demokratie zu wagen!

Vielen Dank!

Till Westermayer, November 1999